Von Frank Levermann
Rambin, Dezember 2016. Das Doktorhaus direkt gegenüber vom Friedhof. Ein Schelm, der dabei Böses denkt. Andererseits: Der Weg zwischen Friedhofsmauer und Arztpraxis heißt „Zum Landambulatorium“. Nomen est omen. Hier hat sich die Begriffswelt der DDR in die Neuzeit gerettet. Landambulatorien und Polikliniken entwickelten sich von 1955 an zum Kern der medizinischen Versorgung. Rambin hat seit fast hundert Jahren in ununterbrochener Folge eine qualifizierte medizinische Versorgung. Es geht auf dieser Seite auch um ein Haus, das in der jüngeren Geschichte von Rambin eine Besonderheit darstellt.

Ärztin für Rambin und Umgebung ist aktuell Dr. Martina Lindner. Gesundheitliche Vorsorge ist einer ihrer Schwerpunkte. Ihr Vorgänger, Dr. Francis Baudet, trat 2015 in den Ruhestand.
Hinter der klassizistischen Fassade des doppelstöckigen Gebäudes von 1905 wirkten Generationen von Landärzten. Die Leute in Rambin nennen es noch immer „Doktorhaus“, obwohl die medizinische Versorgung inzwischen nebenan stattfindet – in einem schlichten weißen Zweckbau, den das Arztehepaar Baudet 2010 errichten ließ. Dort wird medizinisch gearbeitet, gewohnt wird seither andernorts. Für Dr. Martina Lindner, die seit Ende 2014 in Rambin tätig ist, bedeutet „andernorts“ allerdings nicht eine andere Gemeinde: Ihr Familiendomizil liegt kaum 50 Schritte von der Praxis entfernt. Ein glücklicher Zufall führte sie hierher – doch das ist eine andere Geschichte.
Die ersten Ärztegenerationen
In den Jahren 1905/06 ließ der Rambiner Bäckermeister Piel das Haus errichten, nachdem das alte Armenhaus baufällig geworden war. Piel war damals Gemeindevorsteher und Standesbeamter; so befanden sich im Neubau zunächst Bürgermeister- und Standesamt. Nach einer gescheiterten Ehe zog Piel nach Sassnitz – und machte den Weg frei für den jungen Arzt Dr. Wilhelm Hirsch.
1919 erwarb Hirsch mit 29 Jahren das Haus, richtete sich im Obergeschoss häuslich ein und gründete im Erdgeschoss die erste Arztpraxis mit kleinem Wartezimmer. Europa kuriert damals noch an den tiefen Wunden des Ersten Weltkriegs, vielerorts herrschen Krankheit und Elend. Ärzte sind überall dringend gebraucht.

Doktorhaus mit der ursprünglichen Fassade. 1975 ist die Erneuerung überfällig. Die Fassade wird mit grobem Zementputz überzogen.

Stuckateure gibt es Mitte der Siebzigerjahre in der Gegend nicht, der Stuck wird abgeschlagen, die Fassade mit „Bordmitteln“ erneuert. Schlicht, grau und rau: LPG-Putz nennt der Volksmund diese Form der Verarbeitung.
Hirsch hatte gut zu tun. Anfangs fuhr er mit dem Fahrrad zu Hausbesuchen, später mit Pferd und Wagen, schließlich sogar mit einem Zweispänner. Immer an seiner Seite: Kutscher Hans Natzius. Hinter dem Doktorhaus standen ein Stall für Pferde und Wagen sowie eine Waschküche mit Nebenräumen – darunter auch Natzius’ Schlafstätte.
Am 7. Juni 1937 starb Dr. Wilhelm Hirsch mit nur 47 Jahren. Das ganze Dorf trauerte, an den Häusern wurde Halbmast geflaggt. Unmittelbarer Nachfolger wurde Dr. Hermann Rolshoven aus dem Rheinland, der Hirsch schon vertreten hatte. 1948 erhielt Rolshoven einen Ruf nach Bergen, woraufhin Dr. Fritz Schumann die Praxis übernahm. Bis 1953 praktizierte er in Rambin, danach kam der Putbuser Kreissportarzt Dr. Werner Grunert mehrmals wöchentlich zur Sprechstunde ins Doktorhaus.

So sieht das Doktorhaus heute aus. In den Jahren 1992/93 wird das Haus von den Eheleuten Renate und Gerhard Paschirbe aufwendig saniert. Nach alten Fotos wird die Stuckfassade wiederhergestellt.
1955 erreichte auch Rambin der Wandel im DDR-Gesundheitssystem: Das historische Doktorhaus wurde zum Landambulatorium. Nach dem Muster größerer Polikliniken kümmerte sich ein Netzwerk von Ärzten und medizinischem Personal um die Versorgung im Südwesten der Insel Rügen. Zum Landambulatorium Rambin gehörten Dependancen in Samtens, Altefähr, Gustow, Dreschwitz und auf Hiddensee – mit insgesamt rund 30 Mitarbeitenden. Allein in Rambin arbeiteten 14 Personen, darunter:
- ein Allgemeinmediziner mit zwei Schwestern
- ein Zahnarzt mit einer Schwester
- eine Jugendzahnärztin mit zwei Schwestern
- zwei Zahntechniker
- ein Kraftfahrer
- eine Hausmeisterin
- eine Reinigungskraft
- eine Büroangestellte
Ärzte und medizinische Mitarbeiter aller Außenstellen treffen sich zu dieser Zeit in Rambin regelmäßig jeden Monat zur Besprechung über aktuelle Behandlungsfälle. Von Gründung des Landambulatoriums 1955 an ist zunächst für zwei Jahre Dr. Werner Grunert Chef und Allgemeinmediziner mit wöchentlich zwei bis drei Sprechtagen. Jugendzahnärztin Margot Siebke gehörte zum Team, jahrelang auch das Ärzteehepaar Heidi und Michael Kallius von Vitte auf Hiddensee. Nachfolger von Grunert wird 1957 Dr. Heinz Barten mit täglicher Präsenz im Ort. Seit dieser Zeit fungiert das Landambulatorium Rambin auch als Ausbildungsstätte für das poliklinische Jahr junger Ärzte auf Rügen. In den Jahren 1966 und 1967 zieht Barten sich schrittweise zurück; das Amt als Präsident der Gesellschaft für Allgemeinmedizin der DDR in Berlin verschafft ihm höhere Meriten. Zu dieser Zeit absolviert bereits Gerhard Paschirbe in Rambin sein poliklinisches Jahr, seit 1970 ist er Facharzt für Allgemeinmedizin mit regulärer Anstellung. Chef des Landambulatoriums wird Gerhard Paschirbe 1974 und bleibt es bis 1990. 1988 wird ihm der Titel Medizinalrat (MR) für seine umfassende ärztliche Tätigkeit verliehen.
Derweil beziehen sich die Qualitäten des Doktorhauses auf seine inneren Werte – auf das Können des Personals und die medizintechnische Ausstattung. Der architektonische Charme des Gebäudes indes hatte unter dem Krieg und den DDR-Jahren gelitten. Die Renovierung Mitte der Siebzigerjahre trägt bereits Züge von Mangelwirtschaft: Die klassizistisch gestaltete Fassade lässt sich so nicht wiederherstellen, denn Stuckateure gibt es in der Gegend nicht. Also wird der Stuck abgeschlagen, und es kommt ein schlichter Zementputz auf die Hausfront, rau und grau. Im Dorf spricht man spöttisch vom „LPG-Putz” – in Anlehnung an die Außengestaltung der Zweckgebäude Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG). Erst Renate und Gerhard Paschirbe haben nach Erwerb des Hauses Anfang der Neunzigerjahre das Doktorhaus ästhetisch wieder in Wert gesetzt.
Die Wende im Gesundheitssystem
Zahnarzt im Landambulatorium ist bis 1960 Dr. Kurt Fischer. Seine Nachfolger ab Ende der Sechzigerjahre sind Dr. Robert Politz, Dr. Jutta Mäder und Dr. Werner Voigt. Teils kommen sie lediglich zu Sprechstunden nach Rambin. Zuletzt wirkt Zahnärztin Andrea Beer im Doktorhaus. Heute lebt und arbeitet sie als niedergelassene Zahnärztin in ihrem Haus und ihrer Praxis in der Straße Am Sportplatz 14.

„Der Wartburg RÜG-LA 77 will geschont werden. Und mir, dem Fahrer desselben, geht es gleichermaßen.“ So verabschiedet sich Medizinalrat Paschirbe 2008 in den Ruhestand.
Mit der Wende 1990 überzieht das Gesundheitssystem erneut ein Systembruch. Die Landambulatorien der DDR werden aufgelöst, an ihre Stelle treten Praxen niedergelassener Ärzte. MR Gerhard Paschirbe und Zahnärztin Andrea Beer stehen vor Neuland mit besonderen Herausforderungen. Aus dem sicheren Arbeitsverhältnis führt die neue politische Wirklichkeit beide in eine noch ungewisse Selbstständigkeit. Rüstzeug holt sich Paschirbe bei Arztkollegen aus Schleswig-Holstein. Bis Januar 2008 praktiziert er im Doktorhaus als niedergelassener Arzt. Um weiterhin hier wohnen zu können, kauft er das historische Haus 1991 und beginnt mit Ehefrau Renate bald mit der Restaurierung. Auch sein Nachfolger Dr. Francis Baudet praktiziert zunächst im Erdgeschoss des Doktorhauses bis er Anfang 2010 in das vom Arztehepaar Baudet gebaute Haus nebenan einziehen kann.
2019 kann Rambin ein Fest geben. Dann wird es seit hundert Jahren ohne Unterbrechung eine qualifizierte ärztliche Versorgung im Dorf geben. Als sei es ein ungeschriebenes Gesetz, sind bislang Rambiner Mediziner nur dann in den Ruhestand getreten, wenn sie eine Nachfolge sichern konnten. Doc Baudet, wie ihn seine Patienten auch heute noch nennen, ist darüber 71 geworden.