Im Beruf und auch privat habe ich sehr vom Wissen in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia profitiert. Vor vielen Jahren bin ich deshalb dem Verein beigetreten. Ich halte Wikipedia für eines der besten Beispiele, das den Nutzen des Internets belegt.
Deshalb beunruhigt mich, dass aus verschiedenen Interessenkreisen gegen Wikipedia propagiert wird. Die jüngste Attacke habe ich gerade in der Sonntagsausgabe der Ostsee-Zeitung gelesen. Ich möchte allen, die am Bestand von Wikipedia interessiert sind, die Lektüre des folgenden Artikels empfehlen.
Ostsee Zeitung, Sonntagsausgabe am 11. Mai 2025.
mit freundlicher Genehmigung des Verlages hier übernommen
Ein Trump-naher US-Staatsanwalt stellt die Gemeinnützigkeit von Wikipedia infrage. Damit wird ein lange geplanter Angriff auf die Plattform Realität – und auf das freie Wissen der Welt. Wie ernst steht es um die Enzyklopädie?
Von Matthias Schwarzer
Es ist eine Attacke, die sich lange angekündigt hatte – nun könnte es ernst werden. Der Trump-nahe US-Staatsanwalt Ed Martin hat ein Schreiben an die freie Enzyklopädie Wikipedia geschickt. Damit will er nach eigenen Angaben feststellen, ob die Muttergesellschaft der Website, die Wikimedia Foundation, fälschlicherweise den Status der Gemeinnützigkeit innehat. Der Vorwurf: Angeblich herrschten bei Wikipedia Propaganda und Einflussnahme aus dem Ausland.
In einem Schreiben, das die „Washington Post“ veröffentlicht hat, fordert Martin Wikimedia auf, bis zum 15. Mai detaillierte Informationen über die eigenen redaktionellen Prozesse und Sicherheitsmaßnahmen vorzulegen. Auch will der US-Staatsanwalt wissen, wie Wikipedia seine Informationen vor ausländischen Akteuren schützt.
Martin meint: „Wikipedia erlaubt die Manipulation von Informationen auf seiner Plattform, darunter die Umschreibung wichtiger historischer Ereignisse und biografischer Informationen über aktuelle und ehemalige US-amerikanische Staatsführer sowie andere Angelegenheiten, die die nationale Sicherheit und die Interessen der Vereinigten Staaten betreffen.“ Und weiter: „Die Verschleierung von Propaganda, die die öffentliche Meinung beeinflusst, unter dem Deckmantel der Bereitstellung von Informationsmaterial steht im Widerspruch zur ,pädagogischen‘ Mission von Wikimedia.“
Die Wikimedia Foundation selbst wehrt sich gegen diese Darstellung: „Wikipedia ist einer der letzten Orte im Internet, der das Versprechen des Internets erfüllt und mehr als 65 Millionen Artikel enthält, die zur Information und nicht zur Überzeugung geschrieben wurden“, betont die Stiftung in einer Stellungnahme. Für Inhalte gebe es Richtlinien, die sicherstellten, dass Informationen „so genau, fair und neutral wie möglich“ präsentiert würden. „Unsere Vision ist eine Welt, in der jeder Mensch frei an der Summe allen Wissens teilhaben kann“, heißt es weiter in dem Schreiben.
Staatsanwalt verbreitet Propaganda
Der Fall ist auf mehreren Ebenen bemerkenswert. Zum einen, weil es nicht der erste seiner Art ist. Martin hatte in den vergangenen Wochen mehrere Schreiben an wissenschaftliche Publikationen geschickt – betroffen waren laut einem Bericht von NPR mehrere medizinische Fachzeitschriften. Auch ihnen schickte der Jurist Fragenkataloge und warf ihnen vor, in wissenschaftlichen Debatten angeblich „Partei zu ergreifen“. Die Schreiben werden als Einschüchterungsversuche wahrgenommen.
Interessant ist der Fall aber auch wegen Martin selbst. Der heutige US-Staatsanwalt, der Wikipedia nun Propaganda vorwirft, hatte sich nämlich lange Zeit selbst an ebensolcher beteiligt. Zwischen 2016 und 2024 hatte Martin als republikanischer Politiker ganze 150 TV-Auftritte in russischen Staatsmedien wie RT und Sputnik. Dort spann er Verschwörungserzählungen, die sich zum Teil gegen die USA selbst richteten und russische Narrative aufgriffen.
Martin zweifelte auch das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 an und setzte sich für diejenigen ein, die im Januar 2021 das Kapitol gestürmt hatten. Im Januar 2025 machte Donald Trump ihn zum interimistischen US-Staatsanwalt für den District of Columbia. Damit vertritt er die Bundesregierung vor dem dortigen Bezirksgericht. Er ist der erste US-Staatsanwalt für DC seit mindestens 50 Jahren, der ohne Erfahrung als Richter oder Bundesanwalt ernannt wurde. Diese eher unrühmliche Information steht übrigens genauso in seinem Wikipedia-Artikel.
Und schließlich ist der Fall noch aus einem weiteren Grund bemerkenswert: Er reiht sich ein in eine lange Kampagne, die seit Monaten aus dem Trump-Umfeld auf die freie Enzyklopädie abzielt.
Kampagne gegen Wikipedia
Insbesondere Trumps Berater Elon Musk war es, der sich zuletzt auf die Website eingeschossen hatte. Der Tech-Milliardär hält Wikipedia nach eigenen Angaben für zu „links“ und zu „woke“, ohne näher zu erläutern, was er damit eigentlich meint. „Entziehen Sie Wikipedia die Mittel, bis das Gleichgewicht wiederhergestellt ist!“, schrieb er auf seiner Plattform X.
Wikipedia sei angeblich eine „Erweiterung der Propaganda der traditionellen Medien“, textete Musk. Und weiter suggerierte er, Wikipedia werde von „linksradikalen Aktivisten“ kontrolliert. An den Weihnachtstagen rief der Tech-Milliardär seine Community dazu auf, Spenden an die Website zu boykottieren.
Auch der Trump-nahen Heritage Foundation ist Wikipedia ein Dorn im Auge. Wie das Magazin „Forward“ im Januar berichtete, plant die Stiftung die Einschüchterung ehrenamtlicher Autorinnen und Autoren der Plattform. Mithilfe von Textanalysen und Auswertungen von Datenlecks wolle man die Identität von Wikipedianern enthüllen – das hätte zur Folge, dass sie zu Opfern potenzieller Hasskampagnen aus dem „Maga“-Lager werden könnten. Wikipedia leitete Schritte ein, um die Autorenschaft besser zu schützen.
Kaum Chancen für Desinformation
Die Attacken auf die freie Enzyklopädie kommen nicht von ungefähr – schließlich steht ihr Konzept der Politik Trumps diametral entgegen. Während es in sozialen Medien, wie auf Trumps Truth Social oder Elon Musks X problemlos möglich ist, die eigenen Erzählungen und Narrative ohne Faktenprüfung zu verbreiten, ist die Qualitätskontrolle bei Wikipedia deutlich höher. Die Inhalte der Website werden durch eine ehrenamtliche Community befüllt und bearbeitet. Vor der Veröffentlichung eines Artikels steht oft ein langer Aushandlungsprozess, bei dem unter anderem die Relevanz debattiert wird.
Zwar kann jeder die freie Enzyklopädie befüllen und Artikel umschreiben, diese werden jedoch von erfahrenen Nutzerinnen und Nutzern gesichtet, bevor sie der Allgemeinheit angezeigt werden. Ein sogenannter Sichter muss für das Amt mindestens 200 erfolgreiche Bearbeitungen vorweisen können. Zudem wird auf Diskussionsseiten über Artikel und Änderungen teils leidenschaftlich gestritten. Einflussnahme und Falschbehauptungen kann das zwar nicht immer verhindern – doch die Hürden, solche bei Wikipedia unterzubringen, sind hoch.
Das wiederum ist Akteuren ganz unterschiedlicher Lager ein Dorn im Auge: PR-Firmen versuchen, Wikipedia-Beiträge ihrer Klienten aufzuhübschen – oft vergeblich. Verschwörungstheoretiker fahren seit Jahren Kampagnen gegen die Plattform, weil es ihnen nicht gelingt, Erzählungen zu 9/11 oder Impfungen in Artikel einfließen zu lassen. Und Populisten stören sich an Wikipedia, weil die Website Desinformationen mit Fakten kontert – oder sachlich ihre Strategien offenlegt.
Elon Musk ärgerte sich zuletzt, weil seine fragwürdige Handgeste auf der Amtseinführung Trumps Einzug in seinen Wikipedia-Artikel gefunden hatte. Für viele stellte die Geste einen Hitlergruß dar – die Debatte darum wurde ausführlich beschrieben, inzwischen sogar in einem eigenen Artikel.
Ganz frei von Kritik ist Wikipedia dennoch nicht: Immer wieder gibt es Berichte über die wenig diverse Autorenschaft und ein mögliches Ungleichgewicht bei der Bewertung von Artikeln. Dass die Plattform jedoch von angeblichen „linksextremen“ Theorien durchsetzt sei und andere Haltungen unterdrücke, konnten bislang nicht mal diejenigen nachweisen, die dem republikanischen Lager nahestehen.
Eine noch junge Analyse des Manhattan Institute, ein konservativer Thinktank, fand lediglich Hinweise auf eine „leichte bis moderate“ linksgerichtete politische Voreingenommenheit in der Sprache, wenn es um die Beschreibung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in den USA geht.
Steuerbefreiung steht auf der Kippe
Klar ist: Die Zeiten für Wikipedia und das freie Wissen in den USA dürften schwerer werden.
Hinter dem juristischen Angriff Martins könnte der Plan stehen, die Wikimedia-Foundation finanziell zu zerstören – oder sie zumindest mit dieser Option einzuschüchtern, um sie auf Linie zu bringen. Die meisten der großen Tech-Konzerne hatten sich zuletzt der Politik Trumps gebeugt.
Ein möglicher Verlust der Gemeinnützigkeit könnte die Stiftung in finanzielle Schwierigkeiten bringen – in den USA ist dieser Status mit der Steuerbefreiung verbunden. Wikimedia finanziert sich aus Spenden, zu denen die Plattform jedes Jahr zur Weihnachtszeit prominent aufruft.
Zumindest der deutsche Ableger Wikimedia Deutschland wäre davon nicht unmittelbar betroffen: Autorinnen und Autoren hatten im Jahr 2004 einen eigenen gemeinnützigen Verein gegründet, um das Projekt hierzulande abzusichern – dieser erhebt auch eigene Mitgliedsbeiträge. Allerdings arbeitet der deutsche Ableger eng mit der Muttergesellschaft zusammen, mit ihr werden auch Spendengelder geteilt.
Noch blickt man hier vergleichsweise entspannt auf die Angriffe aus den USA. Trump sei schon einmal Präsident der Vereinigten Staaten gewesen, und die englischsprachige Wikipedia habe das unbeschadet überstanden, sagte Franziska Heine, geschäftsführende Vorständin von Wikimedia Deutschland, der „Zeit“: „Weil die Mechanismen, die man sich dort erarbeitet hat, getragen und gehalten haben.“ Das stimme sie grundsätzlich auch für die Zukunft optimistisch.
Stellungnahme der Wikimedia Foundation
zu den Vorwürfen von Staatsanwalt Ed Martin:
Wikipedia ist einer der letzten Orte im Internet, der das Versprechen des Internets erfüllt und mehr als 65 Millionen Artikel enthält, die zur Information und nicht zur Überzeugung geschrieben wurden.